Ist es nicht zu früh?

Gedanken über das Einschläfern eines Tieres, das sich eindeutig „in seinem letzten Lebensabschnitt“ befindet.

von Hugo van Duijn












Herausgegeben von

CP-Pharma Handelsgesellschaft mbH
www.cp-pharma.de
2014
Ins Deutsche übertragen von Günter Bernd & Thekla Großbröhmer


Dieses kleine Buch und die Bleistiftzeichnung von Clinto, einem „echten Mischling“, stammen von dem Tierarzt Hugo van Duijn.


Der letzte Lebensabschnitt

Vorwort

Dieses kleine Buch wurde geschrieben, kurz nachdem wir von unserem Hund Clinto Abschied genommen hatten. Bereits über 20 Jahre spreche ich als Tierarzt mit Hundehaltern über den möglichst optimalen Zeitpunkt, ein Tier einzuschläfern.

Meist geht es dabei um alte Tiere, die nach und nach abbauen und sich ohne Zweifel im letzten Abschnitt ihres Lebens befinden.

Fünfzehneinhalb Jahre war auch ich ein Herrchen: das von Clinto oder – so wie ich ihn selbst immer liebevoll nenne – unserem „hässlichen Mischling“. Und dann war es so weit: Clinto baute stark ab und all die Fragen, die ich als beratender Tierarzt immer so gut zu beantworten wusste, stellten sich nun auch mir. Um Antworten auf diese Fragen zu finden, suchte ich letztendlich bei mir selber Rat.

Da diese Fragen bei jedem Tier immer wieder neu beantwortet werden müssen, habe ich meine Gedanken und Überlegungen dazu aufgeschrieben. In der Hoffnung, dass ich damit anderen Tierhaltern (im Folgenden auch „Herrchen“ oder „Frauchen“ genannt), letztlich aber auch den Tieren selbst helfen kann. Vielleicht können einige Tiere mithilfe dieses Buches noch längere Zeit – möglicherweise mit tierärztlicher Betreuung – gut weiterleben.

Andererseits hoffe ich aber auch, dass meine Gedanken dazu beitragen, dass elende Leben und Leiden nicht unnötig verlängert werden.

                                        Hugo van Duijn

Die Lebensqualität im letzten Lebensabschnitt

Immer wieder kommen Tierhalter zu mir, um sich beraten zu lassen, wann der „richtige“ Moment gekommen ist, um von einem Haustier, das zunehmend abbaut, Abschied zu nehmen. Sie sind mit der Entscheidung überfordert. Denn einerseits spüren sie, dass der Moment näher kommt, andererseits können sie den Gedanken nicht ertragen, dass es wirklich so weit sein soll. In dieser Situation ist es sinnvoll, zu hinterfragen und herauszufinden, wie man den Zustand seines treuen Vierbeiners wirklich einschätzt – ohne daran zu denken, wie sehr man ihn vermissen wird, wenn er nicht mehr sein sollte, oder 100 Gründe aufzuführen, weshalb man ihn nicht verlieren will.

Auf den folgenden Seiten versuche ich Anregungen und Tipps rund um diese Fragestellung zu geben. Vielleicht zeigt sich, dass alles noch in Ordnung und der Zeitpunkt noch nicht gekommen ist. Aber auch dann muss man immer wieder neu und objektiv überprüfen, wie es um sein Haustier wirklich steht.

Kriterien für Lebensqualität

Was ist "der letzte Lebensabschnitt"?

In diesem Buch geht es um Tiere, bei denen klar ist, dass sie sich schon einige Zeit in ihrem „letzten Lebensabschnitt“ befinden, gleichzeitig aber unklar ist, ob die letzte Lebensphase beendet werden muss. Dass es sich um den letzten Lebensabschnitt eines Tieres handelt, kann sich schlichtweg aus seinem Alter ergeben.

Oder besser gesagt: aus den Gebrechen, die das Alter mit sich bringt. Altern selbst ist nämlich keine Krankheit, es kann aber mit typischen Alterserkrankungen einhergehen. 

Der letzte Lebensabschnitt kann aber auch – unabhängig vom Lebensalter – von einem langwierigen Leiden bestimmt sein. Einige Erkrankungen sind nicht direkt tödlich, führen aber dazu, dass sich die Lebensqualität zunehmend verschlechtert. So zum Beispiel chronische Gelenkerkrankungen, die eine Fortbewegung irgendwann kaum mehr möglich machen, so dass es letztlich nur noch darum geht, die Schmerzen des Tieres zu lindern.

Es gibt aber auch chronische Erkrankungen, bei denen absehbar ist, dass sie ab einem bestimmten Zeitpunkt zu akuten und tödlichen Komplikationen führen werden. Das Problem ist, dass man nicht genau weiß, wann dies der Fall sein wird. Ein typisches Beispiel dafür sind Herzerkrankungen.

Diese können manchmal durch Medikamente sehr lange unter Kontrolle gehalten werden. Unvermeidlich ist aber, dass sie irgendwann zu einem qualvollen Tod des Tieres führen. Derartig qualvoll, dass man seinem Tier dieses Leiden ersparen sollte und daher die Verpflichtung hat, dem natürlichen Tod rechtzeitig vorzubeugen, sobald sich erste Anzeichen dafür erkennen lassen.

Manchmal bestimmen auch Verhaltensprobleme den „letzten Lebensabschnitt“ eines Tieres. Vor allem dann, wenn sie schon sehr lange bestehen oder aber so schlimm werden, dass die Situation trotz verhaltenstherapeutischer Maßnahmen unhaltbar wird. In diesen Fällen ist auch entscheidend, was Herrchen und Frauchen mit- und ertragen können. Denn jeder Mensch stößt irgendwann an seine Grenzen – der eine früher, der andere später. Auch hier besteht das Problem, eine individuelle Entscheidung zu treffen. Denn zu einer Grenzüberschreitung sollte man es nicht kommen lassen. Man stelle sich nur einmal vor, ein aggressives Verhalten wird so lange toleriert, bis das Tier ein anderes Tier oder einen Menschen ernsthaft verletzt.

Die Kriterien für Lebensqualität

„Lebensqualität“ ist etwas anderes als „nicht leiden“. Das Leben hat Qualität, wenn es der „Mühen“ wert ist, weiterzuleben.

Was aber sind die minimalen Qualitätsanforderungen? Wie misst man Lebensqualität? Es gibt verschiedene Ansätze, dies zu tun.

 

Die Expertenkommission Brambell (England, 1965) hat fünf Kriterien für die Lebensqualität eines Tieres formuliert. 

Freisein von:

1. Durst, Hunger und ungeeignetem Futter;

2. physischen und physiologischen Gebrechen;

3. Schmerzen, Verwundungen und Krankheiten;

4. Angst und chronischem Stress;

5. Einschränkungen, die es daran hindern, sein natürliches (artspezifisches) Verhalten zeigen zu können

  

Diese Kriterien bezogen die Experten jedoch auf landwirtschaftliche Nutztiere, die im Stall oder auf der Weide gehalten werden. Sie lassen sich also nicht so einfach auf unsere Haustiere übertragen.

Angelehnt an diese fünf Kriterien habe ich die Anforderungen, die sich daraus für Haustiere ergeben, folgendermaßen neu zusammengefasst:

“Fressen, trinken, sowie fröhlich und als Haustier geeignet sein.”

Fressen

Ob ein Tier frisst oder nicht, ist einfach festzustellen, und auch das Körpergewicht lässt sich leicht bestimmen. Vereinfacht kann man sagen: Ein Tier muss so gut und gern fressen, dass es nicht abmagert oder schwach wird. 

Natürlich gehe ich dabei davon aus, dass ein gutes Futter zur Verfügung steht. Und sicherlich kann man mit besonderen Leckereien einige Zeit der Appetitlosigkeit überbrücken. Aber eigentlich ist es bereits ein schlechtes Zeichen, wenn dies erst einmal notwendig ist.  

Ich bin immer wieder erstaunt, wie sehr einige Tierhalter ihre Haustiere abmagern lassen, bis sie sich eingestehen, dass es nicht mehr richtig frisst. Sie konzentrieren ihren Blick dann auf das eine kleine Häppchen, das pro Woche noch gefressen wird, und sagen voller Überzeugung, dass es ja noch frisst. Oft wird ein geringer werdender Appetit auch mit dem Alter erklärt. Doch streng genommen ist Alter keine Krankheit. Wenn ein Tier nicht frisst, liegt etwas Ernsthaftes vor, und wenn es nur die Tatsache ist, dass es sich zu schwach fühlt, um zu fressen. So oder so besteht Handlungsbedarf.

Trinken

Wasser ist Leben. Der Instinkt, zu trinken, ist angeboren. Steht einem Tier jederzeit sauberes Trinkwasser zur Verfügung, ist es selbstverständlich, dass es auch in ausreichendem Maße trinkt. 

Im Unterschied zum Fressen ist es nicht möglich, ein Tier lange ohne Trinken auf den Beinen zu halten. Zu schnell trocknet der Organismus aus. Umso mehr gilt: Wenn ein Tier nicht mehr trinken will, besteht Handlungsbedarf. Auch in diesem Punkt erlebe ich oft, dass Tierhalter vor dieser Tatsache die  Augen verschließen.  

Wasser direkt ins Maul einzugeben ist sicherlich gut gemeint, aber keine wirksame Maßnahme. Denn: Ein Hund mit 20 kg Körpergewicht benötigt einen Liter Flüssigkeit am Tag. Das sind 500 Spritzen zu je 2 ml (24 Stunden lang alle drei Minuten eine, sofern nichts danebengeht).

Oft kommt noch hinzu, dass kranke Tiere dünnflüssigen Stuhlgang oder Durchfall haben bzw. sich häufig erbrechen. In diesen Fällen ist der Wasserbedarf zusätzlich erhöht.

Fröhlich sein

Ob ein Tier noch fröhlich ist, ist bei weitem am schwierigsten zu bewerten. Bei diesem Aspekt geht es vor allem um das Freisein von Leiden, was im Gegensatz zum Fressen und Trinken nicht so einfach einzuschätzen ist. Das ist auch der Grund, warum ich Kriterien, die für diesen Aspekt entscheidend sind, an dieser Stelle übergreifend zusammenfasse. Würde ich jeden möglichen Aspekt einzeln aufzählen, käme eine unendlich lange Liste dabei heraus. 

Eines der wichtigsten Leiden ist Schmerz.

Ein Tier sollte eigentlich gar keine Schmerzen haben, keinesfalls aber starke. Aber was ist „stark“ und wie kann ein Tierhalter Schmerzen bei seinem Haustier erkennen?

In Studien hat sich gezeigt, dass sowohl Tierhalter als auch Tierärzte Schmerzen bei Tieren nicht immer gut einschätzen können. Das gilt vor allem bei chronischen Schmerzen wie bei einer Arthrose und weniger für akute Schmerzen, wie sie bei einer gebrochenen Pfote auftreten. Quälende Schmerzen können langsam beginnen und sehr lange andauern. Werden sie mit der Zeit schlimmer und das Verhalten des Tieres verändert sich entsprechend, wird dies häufig als „Altersschwäche“ abgetan. 

An länger andauernde Schmerzen gewöhnt sich ein Tier aber nicht. Außerdem macht der anhaltende Schmerz das Tier anfälliger für weitere Schmerzreize. Eine gute Möglichkeit, herauszufinden, ob ein Tier Schmerzen hat, ist es, ihm über einen längeren Zeitraum einen guten Schmerzstiller zu verabreichen. Geht es ihm damit besser, scheint es ohne entsprechende Medikamente unter Schmerzen zu leiden.

Ist die Wirkung von Schmerzmitteln nicht mehr ausreichend, zum Beispiel wenn ein Hund mit Arthrose trotz Medikamenten nicht mehr laufen kann, ist es vielleicht doch an der Zeit, Abschied zu nehmen. 

Neben Schmerz gibt es noch viele weitere Probleme, die ein Tier leiden lassen können.

Atemnot zum Beispiel kommt recht häufig vor. Mehrfach habe ich (Herz-) Patienten gesehen, die trotz Medikamenten sehr schwer geatmet haben.
Der Halter sagte trotzdem:
„Aber er hat ja keine Schmerzen …“ Wenn ich dann erkläre, wie unangenehm Atemnot ist, und dass man einen Hund nicht im wahrsten Sinne ersticken lassen darf, fällt der traurige Groschen meist doch noch: Es geht um mehr als „keine Schmerzen haben“. 

Denkt man in Ruhe nach, kann man selbst eine Liste möglicher Leiden aufstellen, und möglicherweise ist man überrascht, wie lang diese wird. Wie ginge es einem selber, wenn man mehrmals am Tag erbrechen muss? Ist es ein Vergnügen, zwei Epilepsieanfälle pro Woche zu erleben, ausgelöst durch hohe Medikamentengaben? 
Und falls das noch akzeptabel sein sollte: Wo liegt dann die Grenze? 

Die Frage, ob ein Tier noch „fröhlich“ ist, kann der Halter selbst am besten beantworten.

Viele Halter wollen dies aber, wenn das Tier auf das Ende seines Lebens zugeht, gar nicht gern tun. Ab und zu kommt ihnen vielleicht der Gedanke – aber er wird dann schnell beiseitegeschoben.

Als Haustier geeignet sein

Dieser Anspruch klingt sehr sachlich. Er bezieht sich vor allem auf das Verhalten des Tieres. Häufige Probleme sind vor allem Aggression und Unsauberkeit. Nicht allein die Verhaltensweisen des Tieres selbst spielen hier eine Rolle, sondern auch die Frage, welche Verhaltensprobleme noch angemessen sind. Was der eine als „noch im Rahmen“ empfindet, ist für einen anderen bereits inakzeptabel. So kann es zum Beispiel als inakzeptabel empfunden werden, wenn ein Hund das erste Mal beißt, insbesondere dann, wenn ein Kind ernsthaft verletzt wird. Auch Unsauberkeit wird auf sehr unterschiedliche Weise erlebt und bewertet. 

Ein Problem ist, dass sich viele Herrchen und Frauchen bei der Erwägung, ein Tier aufgrund unangemessener Verhaltensweisen einschläfern zu lassen, schuldig fühlen. Nicht selten bezeichnen sie sich selbst als „Mörder“. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass man sich selbst und eigene Grenzen nicht außer Acht lassen sollte. Nehmen wir noch einmal das Beispiel des Kindes, das ernsthaft gebissen wurde. Keiner will, dass so etwas nochmal geschieht. Eventuell kann es eine Lösung sein, dem Hund ein anderes Zuhause zu geben – aber wie sicher ist es, dass dort nicht doch noch mal ein Kind gebissen wird? Und wenn es dann passiert, wie will man das vor seinem Gewissen verantworten? 

Oft sind es ältere Hunde, deren Sinne eingeschränkt sind, die nur noch schlecht sehen und hören und daher aus Unsicherheit beißen. So einen Hund kann man nicht mehr in einem neuen Zuhause unterbringen. Die Probleme wären dadurch nicht gelöst. 

Viele Tiere werden im Alter unrein. Das heißt, sie urinieren und koten in die Wohnung. Dies ist sehr unangenehm und viele Tierhalter sind damit überfordert. Auch hier gibt es eine Grenze des Machbaren. Die Grenze ist natürlich schwer zu ziehen, aber wenn es schon so sein sollte, dass sich eine Person, die mit dem Tier unter einem Dach lebt, extrem unwohl fühlt und eigentlich im Stillen hofft, dass das Tier doch endlich verstirbt, dann muss man sich fragen, ob man wirklich noch länger warten muss. 

Ein weiteres häufiges Verhaltensproblem bei älteren Tieren ist Demenz. Das Tier kann dann oft sehr abwesend oder stark verwirrt sein. Betroffene Tiere starren möglicherweise den ganzen Tag an die Wand oder wandern in der Nacht hörbar durch die Wohnung und rauben ihren Haltern den Schlaf. Alte Katzen können bei Demenz extrem viel miauen ohne (erkennbare) Gründe oder körperliche Ursachen.

Ist es wünschenswert, dass keiner im Haus nachts noch ein Auge zumachen kann? Und: Ist so ein Tier wirklich noch fröhlich?

In solchen Fällen sollte man sich ernsthaft ragen, ob man will, dass die Situation so noch länger andauert und ob sie wirklich gut ist – für das Tier, aber auch für den Tierhalter und die ganze Familie. 

Eigene Belange muss man nicht außer Acht lassen oder mit Argumenten abtun wie: „Ich kann doch ein Tier, das allzeit treu gewesen ist, nicht mal eben so einschläfern lassen!“ Kein Mensch trifft eine solche Entscheidung „mal eben so“, sondern er trifft – aus guten Gründen – eine sinnvolle Entscheidung für sich und sein Tier.

Und: Eine Entscheidung, die einem extrem schwer fällt, darf nicht mit einer schlechten Entscheidung verwechselt werden!

Der richtige Zeitpunkt

Der "richtige" Zeitpunkt

Außer Menschen, die das Einschläfern grundsätzlich ablehnen, weiß jeder, dass der Moment kommen kann, in dem es das Beste ist, ein Tier einzuschläfern. Wann dieser Moment gekommen ist, ist jedoch sehr schwierig zu sagen. Tierhalter kommen nicht drum herum, diesen Moment für sich zu bestimmen. Andere Menschen können sie dabei höchstens um Rat fragen. 

Es ist wichtig, die Entscheidung selbst zu treffen und sie nicht anderen zu überlassen, wie es leider viel zu häufig geschieht. Denn nur, wenn man selber überzeugt ist, kann man zu seiner Entscheidung im Nachhinein auch stehen. 

Als Tierarzt kann ich zwar die Frage beantworten, was ich tun würde, wenn es mein eigener Hund wäre, aber ich betone immer wieder, dass es meine Entscheidung wäre und nicht auch die von jemand anderem sein muss. Der Halter darf später nicht das Gefühl haben, ich hätte ihn zu etwas gedrängt. Das hindert mich natürlich nicht daran, meine ehrliche Meinung zu sagen und damit manchmal steuernd einzugreifen. 

Da man den richtigen Moment nicht berechnen oder objektiv bestimmen kann, ist und bleibt es letztlich immer eine Entscheidung, die aus dem Bauch heraus getroffen werden muss. Gerade weil es ein so sensibles Thema ist, fällt eine Bauchentscheidung aber sehr schwer. Man muss versuchen, sich über seinen Standpunkt klar zu werden, ohne sich davon beeinflussen zu lassen, das Tier einfach nicht verlieren zu wollen. Denn dieser Gedanke, die Angst vor dem Verlust, trägt sicher nicht dazu bei, den richtigen Moment zu bestimmen. Der Tag, an dem man sein geliebtes Tier wirklich entbehren kann, wird niemals kommen. Wartet man auf diesen Tag, wird es keinen Punkt geben, an dem man das Leiden beenden wird. Vielleicht ist es gut, sich klarzumachen, dass es den optimalen, besten, richtigen oder einzigen Zeitpunkt einfach nicht gibt. Im Folgenden möchte ich Ihnen trotzdem helfen, den richtigen Zeitpunkt für sich und Ihr Tier zu bestimmen.

"Nicht zu früh?"    "Nicht zu spät!"

Letztlich kann man sich nie sicher sein, ob es ein guter Zeitpunkt ist, sein Tier zu erlösen. Was man aber sehr genau weiß, ist – vor allem im Nachhinein – wenn es zu spät gewesen ist. Wichtig ist daher, sich vorzunehmen: Nicht zu spät! Vielleicht klingt es unlogisch, denn wenn man den optimalen Zeitpunkt nicht kennt, kann man auch nicht wissen, wann es zu spät sein wird. Das ist zwar richtig, aber es gibt Wege, um herauszufinden, ob es kurz vor „zu spät“ ist. 

Man stelle sich einfach vor, das Tier würde noch einen Monat so weiterleben wie im vorhergehenden Monat. Denken Sie dabei an alles, nicht nur an das, was noch gut gelaufen ist. Seien Sie ehrlich und denken Sie auch an die Dinge, die schwierig oder weniger gut waren. Natürlich sind Sehschwäche, schlechtes Hörvermögen und „nicht mehr über den Zaun springen können“ bei einem älteren Tier keine Gründe, das Leben zu beenden. Wenn sich ein alter Hund mit Medikamenten und tierärztlicher Hilfe noch gut fühlt, gibt es keinen Handlungsbedarf. Sind da aber Probleme, die wirklich gravierend sind, dürfen Sie die Augen nicht davor verschließen. 

Verdeutlichen Sie sich, was diese Probleme für das Tier bedeuten. Berücksichtigen Sie dabei auch, wie oft sie vorkommen und wie lange sie bereits andauern. Passiert es täglich, einmal pro Monat oder immer mal wieder? Dauert es eine Minute oder vielleicht ein paar Tage? 

Nachdem man den letzten Monat in Ruhe hat Revue passieren lassen, stelle man sich vor, wie es wäre, wenn das Tier noch genau so einen Monat erleben und danach versterben würde. Könnten Sie dann sagen: „In diesen vier Wochen hat er es noch gut gehabt“ oder würden Sie eher sagen: „Im letzten Monat hat er sich nur noch gequält“? Im ersten Fall ist alles gut. Dann gehen Sie einfach im nächsten Monat den gleichen Weg nochmal. Ist Zweites der Fall, müssen Sie sich ernsthaft überlegen, ob es einen weiteren Monat geben muss. Denn im Zweifel: Besser eine Woche zu früh als eine Stunde zu spät!

“Läge er doch nur tot in seinem Körbchen …”

Häufig höre ich von Tierhaltern: „Ach, läge er doch nur tot in seinem Körbchen …“
Wir sollten uns einmal fragen, was da eigentlich genau gesagt wird und warum. Stellen Sie sich vor, man würde diesen Satz bei einem noch jungen und gesunden Tier sagen. Dann würde dies bedeuten: „Ich hoffe, dass mein Tier nach einem langen und gesunden Leben irgendwann einmal friedlich im Schlaf verstirbt“. Fällt dieser Satz dagegen bei einem alten oder kranken Tier, so handelt es sich keineswegs um einen Wunsch auf lange Sicht. Sollte es so sein, dass Sie früh am Morgen aufwachen, noch im Bett liegen und denken: „Ich wünschte, mein treuer Freund läge jetzt tot in seinem Körbchen“, dann ist das ein sehr konkreter Wunsch. Wortwörtlich: „Ich wünschte, er wäre tot …“  

Hier ist also ein Mensch, der sein Tier einerseits sehr schätzt und es nicht missen möchte, sich andererseits aber wünscht, dass es tot wäre. Das schließt sich eigentlich gegenseitig aus, aber doch höre ich es immer wieder. Dass die Bedeutung dieser Aussage in diesen Momenten nicht wahrgenommen wird, merke ich immer dann, wenn ich die Aussage für den Halter „übersetze“ und auf den Punkt bringe. Der Tierhalter ist dann erschrocken und sagt so etwas wie: „Ja, hmmmm, aber wir wollen ihn doch nicht verlieren, verstehen Sie?“ Es geht dem Tier also so schlecht, dass der Tierhalter (unbewusst) weiß, es wäre besser, wenn es nicht länger leben müsste.

Warum dann aber doch der Schreck, wenn dies bewusst wird? Ganz einfach: Der Tierhalter weiß, dass es besser wäre, wenn das Leben seines Tieres beendet würde, er will aber nicht der Auslöser sein, indem er die Entscheidung trifft und mit mir das Einschläfern in die Wege leitet. Er fühlt sich auf diese Weise schuldig an dem Tod seines Tieres. Manche Tierhalter entschuldigen sich sogar bei ihrem Tier, wenn ich es dann letztlich einschlafen lasse. 

Die größte Hürde ist also, selbst initiativ zu werden und sein Tier einschläfern zu lassen. Das ist so schwer, dass man lieber auf die Hoffnung einer „bequemeren Lösung“ setzt: darauf, dass das Tier von selbst in seinem Körbchen stirbt. Aber: Zur rechten Zeit wichtige Entscheidungen zu treffen gehört unbedingt dazu, um ein gutes Herrchen und Frauchen zu sein. 

Ich bin der Meinung, dass Tierhalter den erlösenden Gedanken „Läge er doch nur tot in seinem Körbchen“ als wichtiges Signal dafür nehmen sollten, dass es höchste Zeit ist, (sehr) bald Abschied zu nehmen. Wenn  man sein Tier sehr lieb hat und dennoch seinen Tod herbeisehnt, sollte einem dies unbedingt zu denken geben …

Die besten Steuermänner …

Nicht selten sind es Personen aus dem Umfeld, die erste Signale senden. Sie fragen, ob es nicht an der Zeit sei, das Tier einschläfern zu lassen. Viele Tierhalter reagieren darauf mit Ärger und Zorn. „Warum mischen sich andere ein? Das entscheide ich doch wohl noch selbst!“ Richtig: Die Entscheidung treffen Sie als Tierhalter. Aber es kann sehr wertvoll sein, nicht blind auf seinem Weg zu steuern, sondern auch die Steuerleute am Ufer zu beachten.

Denn: Meistens ist etwas dran, wenn sich Außenstehende in diese Richtung äußern. Kein Mensch sagt so etwas, um Sie zu verletzen. Niemand findet es angenehm, ein solch sensibles Thema anzusprechen. Natürlich kann es gut sein, dass Außenstehende anders über die Lebensqualität eines Tieres urteilen, als Sie das tun. Aber dennoch sollten Sie sich dem Thema stellen und ehrlich fragen,  warum Personen aus Ihrem Umfeld Ihnen solche Dinge sagen. Ist es so, dass Sie zu dem Schluss kommen, dass es Ihrem Tier noch gut geht, so ist das prima und nichts Falsches dran. Aber vielleicht ist es auch an der Zeit, sich ehrlich zu fragen, welche konkreten Verschlechterungen noch erforderlich sind, bevor auch Sie zu dem Schluss kommen, dass es nicht mehr geht. 

Soweit also Gedankenanstöße und Überlegungen zu der Frage „Ist es noch zu früh?“.

Von der konkreten Umsetzung handelt das folgende Kapitel.

Die Entscheidungsfindung

Nicht vage überlegt, sondern konkret auf den Punkt gebracht. Was wollen Sie – und was nicht?

 

Sehe ich ein Tier, von dem ich glaube, dass über seine Lebensqualität nachzudenken sei, ist es meist nicht schwer, das Gespräch mit dem Tierhalter auf dieses Thema zu lenken. Mein Ziel ist es, „vorzufühlen“, ob der Tierhalter bereits selbst schon mal darüber nachgedacht hat. Meist reicht eine einfache Frage aus: „Geht es insgesamt noch?“ Darauf gibt es drei mögliche Antworten.

1.
„Ja, alles gut, keine Probleme!“, ergänzt mit einigen Details, was das genau bedeutet. Klingt es stimmig, dann belasse ich es dabei. Ich bestätige, dass Alter keine Krankheit ist, und hoffe den Tierhalter angeregt zu haben, ab und zu darüber nachzudenken, wie es seinem Tier geht.

2.
„Man merkt, dass er sehr alt geworden ist.“ Ich frage dann, woran der Halter dies erkennt. Meist folgt dann eine Aufzählung von Altersbeschwerden. 
Ich beschränke mich auf Fragen zu den Themen Essen, Trinken, fröhlich und als Haustier geeignet sein. Und ich weise darauf hin, ein aufmerksames Auge auf Veränderungen im Gesundheitszustand des Tieres zu haben und unserer Praxis diese stets mitzuteilen. Es gibt nämlich Alterserkrankungen, die man sehr gut behandeln kann, wenn man sie frühzeitig erkennt. Und es wäre schade, wenn ein Halter es zwar gut meint, letztlich aber zu lange wartet, bis er aktiv wird. Ich habe das leider schon häufiger erlebt. Und schließlich wird ein Tier niemals (früher) eingeschläfert, weil sein Halter mit ihm zum Tierarzt geht, sondern viel eher dann, wenn er dies nicht oder aber zu spät tut.

3.
„Wir denken, dass es nicht mehr lange dauert.“ Oft wird dieser Satz begleitet von Tränen. In diesen Fällen stelle ich weitergehende Fragen und eventuell wird vereinbart, den letzten Weg vorzubereiten. In dem Gespräch wird häufig deutlich, wie vage die Vorstellungen sind, die der Halter vom Einschläfern hat: „Er soll nicht leiden“ oder „Mein Tier soll aber ansehnlich bleiben“ oder „Das Ganze darf mein Tier aber nicht zu sehr belasten“. Solche Kriterien sind jedoch als Basis für eine Entscheidung zu vage. Der Tierhalter muss sich fragen, was er konkret damit meint. Dafür kann man Sätze bilden wie: „Ich will (nicht), dass …“, gefolgt von etwas Konkretem, etwas Messbarem.

Ein Frauchen, dessen Hund eine starke Arthrose hatte, erzählte mir einmal, dass sie nach dem Gespräch mit mir einen konkreten Plan für sich aufgestellt hat: An dem Tag, an dem es ihr Hund trotz Schmerzmitteln und anderen medizinischen Maßnahmen nicht mehr schafft, die Straße runterzulaufen, würde sie ihn einschläfern lassen. Ihr Wunsch: Sie wollte nicht zu lange warten und ihrem Hund unnötiges Leid ersparen. Sie hat ihr Wort gehalten. 

Der Halter einer 18-jährigen Katze mit einem chronischen Nierenproblem hatte für sich einen anderen Weg gefunden. Seine Katze war durchaus lebhaft, wurde aber zunehmend magerer, trank viel und fraß mal einen Tag gar nicht, dann wieder eine ganze Woche normal. Der Halter war unsicher und wollte die Katze nicht einschläfern lassen, sobald sie mal einen Tag nicht fraß. Schließlich konnte darauf ja auch wieder eine Woche voller Appetit folgen.
Auf der anderen Seite sah er ein, dass sich seine Katze in ihrem letzten Lebensabschnitt befand und er die Pflicht hatte, eine Entscheidung zu ihrem Wohle zu treffen. Er setzte sich eine Grenze: Sobald die Katze fünf Tage nichts gefressen haben sollte, würde er eingreifen. 

Leidet ein Tier an Epilepsie und bekommt es regelmäßig Anfälle, muss es mit speziellen Medikamenten behandelt werden. Mit zunehmendem Alter kann sich die Wirkung dieser Medikamente jedoch abnutzen, sie ist also eventuell nur für begrenzte Zeit effektiv. In diesen Fällen ist es wichtig, sich im Voraus zu überlegen, wie viele Anfälle man noch akzeptabel findet und wann die zumutbare Anzahl überschritten ist. Konkret sollten Sie sagen: „Ich möchte nicht, dass mein Tier noch mehr als … Anfälle bekommt.“

Ähnlich kann man auch an die Sache herangehen, wenn das Tier nicht mehr gut aufstehen kann. Es ist natürlich nicht verwerflich, ab und zu eine helfende Hand zu reichen, aber wie häufig ist das akzeptabel?

Will man es so weit kommen lassen, dass der Hund dreimal täglich ins Freie getragen werden muss, um sein Geschäft verrichten zu können? Dasselbe gilt auch, wenn zum Beispiel eine nierenkranke Katze sehr häufig erbrechen muss.

Wie oft will man ihr dies noch zumuten – oder vielleicht überhaupt nicht mehr? 

Je früher man sich solche konkreten Wege aufzeigt, desto eher ist es der Zustand des Tieres, der die Entscheidung letztlich herbeiführt. Man wird dann nicht plötzlich überrascht und muss nicht immer wieder neue Überlegungen anstellen, um für sich zu klären, ob es denn noch geht oder nicht.

Welche Argumente zählen – welche nicht?

Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Es gibt nur ein Argument, das – neben inakzeptablen Verhaltensproblemen – zählt: die Lebensqualität des Tieres! Andere Argumente für und gegen das Einschläfern sind dagegen zweitrangig. Denn unter dem Strich hat man die Verpflichtung, die Lebensqualität seines Tieres aufrechtzuerhalten.

Man ist dagegen nicht verpflichtet, alles zu tun, was möglich ist. 

Wo genau die Grenze sinnvoller medizinischer Maßnahmen liegt, darüber gehen die Ansichten – sowohl bei Tierhaltern als auch bei Tierärzten – sehr weit auseinander. Alle Maßnahmen müssen mit Bedacht abgewogen werden, am besten in Absprache mit einem Tierarzt. Die letzte Entscheidung liegt aber natürlich wieder bei Ihnen, dem Herrchen und Frauchen. 

Es gibt einige typische Argumente, die immer wieder angeführt werden, die aber bei der Entscheidung, ein Tier einschläfern zu lassen, nicht zählen. Das eine ist die Auflistung all der Dinge, die das Tier noch kann und tut, das andere sind Argumente, die die Lebensqualität des Tieres außer Acht lassen, und dann ist da noch der Vergleich zwischen Mensch und Tier.

„Er kann doch noch so viel …“

Zuerst zu den Dingen, die das Tier noch kann und tut. Es ist noch nie ein Tier aufgrund der Dinge eingeschläfert worden, die es noch gut kann. Und doch werden diese Dinge in der entscheidenden Situation immer aufgeführt. Ich selbst habe mich als Herrchen übrigens auch dabei ertappt. Ich verstehe sehr gut, wenn ein Halter sagt: „Er wedelt noch mit dem Schwanz, wenn er uns hört“, „Er frisst doch noch so gut“, „Er hat keine Schmerzen“ oder: „Sie spielt manchmal noch mit unserer anderen Katze“.

Diese Aussagen mögen stimmen, aber sie sind kein Grund, ein Tier nicht einschläfern zu lassen. Denn die Gründe, die dafür sprechen, ein Tier einschläfern zu lassen, können nicht durch Dinge ausgeglichen werden, die noch gut gehen. Das ist ähnlich wie beim Schulzeugnis: Eine ungenügende Leistung in Mathematik kann durch eine Eins in Französisch nicht wettgemacht werden. Keiner muss eine Klasse wiederholen, weil er eine Eins in Französisch hat, sondern weil er in Mathematik eine Sechs hat. Auch wenn es einem das Gefühl verbietet, so sollte man das Augenmerk zum Wohl des Tieres ehrlich auf das richten, was nicht mehr gut ist, nicht auf das, was noch einigermaßen klappt.

„So weit sind wir noch nicht.“

Nun zu den Argumenten, die nichts mit der Lebensqualität des Tieres zu tun haben. Auch diese sind sehr verständlich. Es handelt sich um Aussagen wie: „Wir können ihn noch nicht gehen lassen“, „Wir sind noch nicht so weit“, „Ich weiß, dass der Zustand unhaltbar ist, aber ich muss mich erst an den Gedanken gewöhnen“.

Argumente wie diese beziehen sich auf das Herrchen und Frauchen, haben aber keinen Bezug zu dem, um den es geht: das Tier. Nicht selten folgen diese Argumente der Einsicht, dass es besser wäre, das Tier einschläfern zu lassen. 

Natürlich will kein Herrchen oder Frauchen sein Tier verlieren, aber das ist nicht entscheidend. Ist der Zustand des Tieres schlecht, ist es fraglich, ob der Halter sich noch an den Gedanken gewöhnen darf.

Ich habe oft erlebt, dass Tierhalter (manche sogar wiederholt) einen vereinbarten Termin zum Einschläfern absagen, weil sie noch nicht so weit sind. Und nicht selten müssen sich diese Personen im Nachhinein damit auseinandersetzen, dass sie zu lange gewartet und damit das Leiden des Tieres unnötig verlängert haben. 

Manche Argumente, bei denen das Tier außer Acht gelassen wird, sind sehr emotionaler Natur. Oft ist dies der Fall, wenn ein Tier eine überdurchschnittlich emotionale Bedeutung hat. So kann zum Beispiel bei der Katze des verstorbenen Lebenspartners die Trauer um diesen Menschen hochkommen.

Für manche Personen, die selbst stark belastet sind oder ernsthafte Probleme haben, kann ein Tier auch eine große Unterstützung bedeuten. Für sie ist der Gedanke, das Tier einschläfern zu lassen, unerträglich.

Bei allem Respekt vor der Tragweite dieser persönlichen Umstände müssen diese jedoch losgelöst von der Lebensqualität des Tieres betrachtet werden, und sie dürfen niemals der Grund sein, die Leiden eines Tieres zu verlängern. Zumal das Problem ja nur verschoben und nicht behoben wird.

Irgendwann wird es ohnehin so weit sein, so traurig das auch ist. 

Manchmal ist es aber auch so, dass rein praktische Gründe angeführt werden, um den Termin des Einschläferns hinauszuzögern, zum Beispiel, wenn ein bestimmtes Familienmitglied mit dabei sein will und kurzfristig nicht kann. Ob dies zu rechtfertigen ist, hängt stark vom Zustand des Tieres ab und davon, wie lange es dauert, bis das entsprechende Familienmitglied eintreffen kann. Ein Hund, der seit vielen Jahren unter Arthrose leidet, kann sicherlich warten, bis die Tochter der Familie aus der Schule kommt. Eine herzkranke Katze mit akuter Atemnot hat dagegen sicherlich keine drei Wochen Zeit, bis sein Herrchen oder Frauchen von der Dienstreise zurück ist. 

Fazit: Ist nach eingehender Beratung die Entscheidung gefallen, dass es nicht mehr geht, gibt es keinen guten Grund mehr, noch länger mit dem Einschläfern zu warten.

„Beim Menschen würde man doch auch nicht …“

Problematisch ist darüber hinaus der Vergleich zwischen Mensch und Tier. Denn dieser Vergleich ist nicht immer zutreffend.

Die Lebensqualität eines vom Hals abwärts gelähmten Tieres ist für nahezu jeden Tierhalter inakzeptabel, wohingegen das beim Menschen selbstverständlich anders gesehen wird. Auch das Thema Demenz muss bei Tieren anders betrachtet werden als beim Menschen. Und auch bei therapeutischen Maßnahmen wird ein Unterschied gemacht. 

Bei älteren Menschen wird medizinisch – wenn nur irgendwie möglich – alles möglich gemacht. Bei älteren Tieren dagegen werden Grenzen akzeptiert und zum Beispiel eingeräumt, dass sie zu alt für größere Operationen sein können. Menschen, die im Rollstuhl sitzen, gehören selbstverständlich in unsere Gesellschaft. Über Hunde, die mit gelähmtem Hinterteil auf ein Gestell mit Rädern gebunden sind, wird ganz anders gedacht. Auf der anderen Seite sterben manche alte und kranke Menschen unter Umständen, die ich als unwürdig erachte und meinem Hund nicht zumuten möchte. Der Vergleich zwischen Mensch und Tier hinkt und ist daher nicht hilfreich.

„Einschläfern ist so elend.“

Viele Tierhalter führen an, dass das Einschläfern elend sei. Das Einschläfern ist für ein Tier aber nicht unangenehmer als eine Narkosespritze oder die jährliche Impfung. Wenn ein Tier bei der jährlichen Impfung widerwillig reagiert hat, kann dies auch beim Einschläfern geschehen, aber nicht etwa, weil das Tier eine Vorstellung davon hat, was die Spritze im Einzelnen für Folgen hat. Es gibt zwar Menschen, die behaupten, ihr Tier wisse genau, was geschieht. Aber ich denke, dass ein Tier allenfalls angespannt ist, weil es die Anspannung seines Herrchens oder Frauchens spürt. Anders als Menschen begreifen Tiere nicht, dass es ein Morgen gibt, und sie beschäftigen sich nicht damit, dass ihr Leben endlich sein könnte. Und: Das Einschläfern ist sicherlich nicht so elend wie eine unnötig anhaltende elende Lebensqualität.

Reue

Ich beobachte nach dem Einschläfern bei Tierhaltern zwei Formen des Bedauerns. Zum einen gibt es Menschen, die im Nachhinein bereuen, dass sie ihr Tier haben einschläfern lassen. Das ist fürchterlich, aber ich denke, dass in diesen Fällen meist Kummer mit Reue verwechselt wird. Manch ein Tierhalter reagiert sogar wütend, zum Beispiel, wenn er sich noch nicht sicher war und von anderen „überstimmt“ oder „überredet“ wurde. Es ist leicht gesagt, aber Reue bringt in diesen Fällen gar nichts, denn der ohnehin unvermeidliche Kummer wird dadurch nur verschlimmert. 

Viel häufiger erlebe ich es, dass ein Tierhalter im Nachhinein bereut, zu lange gewartet zu haben und sein Tier damit unnötig lange hat leiden lassen. Für das Tier kommt diese Reue eindeutig zu spät.

Die Geschichte von Clinto

Zum Schluss: Die Geschichte von Clinto

Eigentlich ist über Clintos Schicksal zweimal entschieden worden: das erste Mal, als er beinahe 14 Jahre alt war. Clinto hatte eine Geschwulst in seinem Nacken, die sich als bösartiger Tumor herausstellte. Ich habe den Tumor entfernt, aber leider kam er wieder. Oder genauer gesagt: Der Tumor war nicht vollständig entfernt worden und wuchs weiter. Wir stellten uns die Frage: Sollen wir diesen rüstigen alten Knacker noch einmal operieren, oder warten wir ab und schläfern wir ihn dann ein, wenn es irgendwann nicht mehr geht? 

Wir hätten es gut vertreten können, nicht erneut zu operieren, denn niemand ist verpflichtet, einen so alten Hund noch zu operieren. Und Clintos Lebenserwartung war aufgrund seines Alters auch unabhängig von dem Tumor ohnehin nicht mehr lang.

Wir wären mit dieser Entscheidung also kein „schlechtes Frauchen und schlechtes Herrchen“ gewesen. Wir haben jedoch beschlossen, weiterzumachen.

Unser Gedanke war: Das Alter ist keine Krankheit und er kann ohne den Tumor noch prima weiterleben. Und sein Blutbild war so gut, dass keine Probleme bei einer Operation zu erwarten waren.

Genauso zu operieren wie beim ersten Mal erschien uns aber nicht sinnvoll. Mit einer Magnetresonanztomographie (MRT) haben wir versucht, zu erkennen, wie weit sich der Tumor bereits ausgebreitet hatte.

Leider hat dies nicht geklappt, da die Begrenzungen auf den MRT-Bildern schlecht zu sehen waren. Aber auch hier galt: Wir haben uns für diese Untersuchung entschieden und sie ist jetzt nicht auf einmal falsch, nur weil das Ergebnis hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben ist. 

Clinto wurde dann von einem meiner Kollegen operiert, der sich auf Krebschirurgie spezialisiert hatte. Nach der Operation hat Clinto das erste und letzte Mal in seinem langen Leben in unserem Bett geschlafen, damit wir ihn zwischen uns festhalten konnten. Mit viel Schmerzmitteln und aufwendiger Pflege hat er die Operation gut überstanden und sich erholt. Und eine Kontrolluntersuchung zeigte, dass der Tumor komplett entfernt war. 

Das zweite Mal, dass über Clintos Schicksal entschieden wurde, war im Alter von fünfzehneinhalb Jahren. Er konnte seine Hinterläufe immer weniger kontrollieren, auch wenn er sich das kaum anmerken ließ.

Eines Tages sah ich ihn aber, wie er in einer Art Spagat dasaß. Er versuchte vergeblich sich hinzustellen und jaulte dabei. Wir verabreichten Anabolika und Schmerzmittel, was zeitweise half. Aber kurz danach traf meine Frau unseren Hund erneut so hilflos an. Wir merkten, dass sich der Zeitpunkt des Abschieds näherte. 

Aber wann?

Wir haben drei Söhne und beschlossen abzustimmen und die „einfache Mehrheit“ entscheiden zu lassen. Das klingt vielleicht eigenartig, wenn ich das jetzt so erzähle, aber letztlich mochten wir Clinto alle sehr gern und keiner von uns hätte leichthin für das Einschläfern gestimmt. So denke ich auch im Nachhinein, dass unser Vorgehen gut war. Die Entscheidungsgrundlage war auf jeden Fall konkret und messbar. 

Die ersten beiden Zustimmungen erfolgten schnell: Zwei unserer Söhne fanden, dass Clinto nicht mehr kann. Ich führte dagegen auf, was alles noch gut ging: Clinto fraß noch sehr gut, trank gut, er gewann noch jede Auseinandersetzung mit jüngeren Hunden (um danach allerdings eine halbe Stunde fix und fertig zu sein, aber immerhin). Und: Immer, wenn er wieder auf die Beine gestellt war, lief er schneller als ich.

Doch als ich ihn jedoch kurze Zeit danach wieder in seinem hilflosen Zustand antraf, dieses Mal in seinem eigenen, bereits getrockneten Kot kauernd, fiel auch bei mir der Groschen. Ich wollte, dass Clinto dies nicht noch einmal erleben musste. All die Dinge, die er noch gut konnte, zählten nicht. Wir sollten ihn einschläfern lassen, nicht weil er noch gut fraß, trank und rumtobte, sondern weil er nicht mehr Herr über seine Hinterläufe war und dadurch in elende Situationen kam. 

Zweifel kamen hoch, aber die Gegenfrage stellte sich sofort. Wenn das noch nicht ausreicht, was dann noch? Wie oft genau (konkret) will ich ihn noch hilflos in seinem eigenen Kot auffinden? Zweimal? Zehnmal? Die Antwort: Kein einziges Mal!

Hiermit wurde ich zur dritten Ja-Stimme und wir haben alle zusammen beschlossen, Clinto einzuschläfern. Wir haben unseren „hässlichen Mischling“ zu Haus einschlafen lassen. Haben wir Reue empfunden? Nein, er verdiente es, sich nicht länger derart abzuquälen. Haben wir Kummer gehabt? Ja, viel!


© 2012 Hugo van Duijn


An wen richtet sich dieses kleine Buch?

Mit diesem kleinen Buch möchte Tierarzt Hugo van Duijn, der seit über 20 Jahren in der Praxis tätig ist und nach über 15 Jahren selbst Abschied von seinem treuen Hund Clinto

nehmen musste, Ansichten und Gedanken zum Einschläfern eines Haustieres teilen. Auf Basis seiner persönlichen Erfahrungen und Kenntnisse als Tierarzt arbeitet er das Für und Wider des Abschiednehmens in einzelnen Aspekten heraus. Gedacht ist sein kleines Buch als Hilfestellung, damit Tierhalter zu einer individuellen, verantwortungsvollen und für Tier und Mensch angemessenen Entscheidung finden können.

 

Über den Autor
Hugo van Duijn studierte Tiermedizin in Utrecht. Er arbeitet als Tierarzt für Klein- und Haustiere in der Tierarztgemeinschaft West-Brabant in Etten-Leur, Niederlande.